Zur Einordnung von Shen Yun/Falun Dafa
Folkloristisches Tanztheater oder Sektenpropaganda?

Seit fast zwei Jahrzehnten tourt Shen Yun Performing Arts durch die Welt, ein 2006 gegründetes Ensemble für Darstellende Kunst und Unterhaltung mit Sitz in New York. Seine opulente Tanzshow Shen Yun, die mit zahllosen Mitwirkenden chinesischen Volkstanz, Instrumentalmusik und Operngesang auf die Bühne bringt, füllt die Säle großer renommierter Theater: die Carnegie Hall in New York, die Royal Festival Hall in London oder das Palais des congrès in Paris, um nur wenige zu nennen.
Von Anfang an waren sich Besucher, Kommunen und Medien darin uneinig, wie dieses Tanztheater einzuschätzen ist, das mit Tänzen nationaler Minderheiten zugleich ein „China vor dem Kommunismus“ lebendig werden lassen möchte: als beeindruckendes Folklore-Event, das der Völkerverständigung dient? Oder als Propagandaveranstaltung, mit der eine 1999 vom chinesischen Staat verbotene und seither verfolgte spirituelle Bewegung auf das eigene Schicksal und das Ergehen ihrer Anhänger in China aufmerksam zu machen sucht?
Shen Yun – Der Tanz der „Psychosekte“ und das Urteil eines Landgerichts
Anlässlich der aktuellen Deutschland-Tournee befasste sich im Februar 2025 eine Folge von Jan Böhmermanns Sendung ZDF Magazin Royale unter dem Titel „Tanz der Sekte“ mit Shen Yun. In der Sendung wird jene Frage recht eindeutig beantwortet: Hinter dem Ensemble stecke „die weltweit aktive Sekte Falun Gong“, die als „Psycho-Sekte“ einzustufen sei. So habe zumindest „das Landgericht Leipzig geurteilt“.1 Das besagte Urteil vom 20. Januar 2005 verwendet den Begriff „Psychosekte“ selbst nicht, schreibt der Bewegung Falun Gong (auch Falun Dafa genannt) und damit indirekt auch dem im hessischen Gorxheimertal ansässigen Verein Falun Dafa e.V. tatsächlich „den Charakter einer neureligiösen Sekte mit hierarchischen Anhängerstrukturen“ sowie ein „elitäres und sektiererisches Gruppenbewusstsein“ zu. Der Verein selbst hatte gegen dieses Urteil Berufung eingelegt, diese Berufung jedoch mangels Erfolgsaussichten wieder zurückgezogen und schließlich eine dem Leipziger Urteil entsprechende Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts (OLG) Dresden (Az. 14 U 265/05) akzeptiert: „Wenn wir schon eine Sekte sein sollen, dann mit Sicherheit eine harmlose und gute.“2
Epoch Times – Falun Gongs Nachrichtenmagazin mit Neigung zu Verschwörungserzählungen
Von „gut“ und „harmlos“ spricht auch Böhmermann in der genannten Sendung, diesmal nur – in satirischer Verkehrung – von der „guten und harmlosen Psychosekte“. Über die von Mitgliedern von Falun Gong in New York gegründete und herausgegebene Zeitung Epoch Times verbreite sie „Falschinformationen und rechtspopulistische Propaganda in der ganzen Welt“. Die in über 35 Ländern (auch in Deutschland) erscheinende Zeitung ist ebenso wie Shen Yun Performing Arts und unzählige andere Organisationen des Falun Gong Universums3 ein zentrales Sprachrohr der Bewegung. Es sorgt nicht nur mit verschwörungstheoretischen Artikeln und politischer Einflussnahme (insbesondere bei US-Wahlen) regelmäßig für Irritationen. Schon die dort publizierten Botschaften des Falun Gong-Gründers Li Hongzhi (geb. 1951) sowie die Tausende von Werbeartikeln über Shen Yun4 machen deutlich, dass die Epoch Times kein Nachrichtenmedium im üblichen Sinne sein will.
Falun Gong – Spirituelle Bewegungspraxis und strenge Disziplin
Ebenso wenig will Shen Yun, obwohl offiziell als Kulturveranstaltung beworben, alleine der Unterhaltung dienen. Im Untermenü „Künste und Spiritualität“ des Internetauftritts werden die „hervorragenden Leistungen“ des Ensembles auf eine „spirituelle Verbindung“ zurückgeführt. „Quelle der Inspiration der Künstler ist die spirituelle Disziplin, die Falun Dafa heißt.“5 Die 1992 von Li Hongzhi in China gegründete Qigong-Praxis verbindet buddhistische, daoistische und konfuzianische Vorstellungen zu einer spirituellen Bewegungspraxis. Dabei geht es darum, sich den kosmischen Grundprinzipien Wahrhaftigkeit (zhēn), Barmherzigkeit (shàn) und Nachsicht (rěn) anzunähern, und zwar über fünf Körperübungen, mit denen gute und schlechte Energieströme aufgenommen oder abgeleitet werden. Auf diesem Wege zielt die Bewegungslehre auf die Kultivierung der menschlichen Existenz und der Menschheit insgesamt.6
Für die in der Zentrale bei Dragon Springs ausgebildeten Tournee-Ensembles scheint diese Kultivierungspraxis zugleich mit einem strengen und, nach Recherchen der New York Times (NYT), sogar „ausbeuterischen“7 Regime verbunden zu sein. 2024 wurde Shen Yun in einer Bundesgerichtsklage vorgeworfen, „jugendliche Tänzer erniedrigenden Disziplinierungsmaßnahmen ausgesetzt und ihnen im Falle einer Kündigung mit Gewalt gedroht zu haben“.8 Böhmermann greift jene NYT-Recherche auf und spricht von „Darstellerinnen, darunter auch Minderjährige, die im Trainingscampus zermürbende Arbeitsstunden bei geringer Bezahlung leisten“9. Er bringt damit das kolportierte Bild von Falun Gong/Falun Dafa als einer volksreligiösen Bewegung, die allein spirituellen und gesundheitlichen Zielen verpflichtet sei, erheblich ins Wanken.
Chinas Rechtfertigungsstrategie in der Verfolgung von Falun Gong und der Sekten-Begriff
Um einen Imageschaden zu verhindern, hat Falun Dafa e.V. zu Böhmermanns Vorwürfen alsbald Stellung bezogen.10 Der Verein sieht, und dies wohl nicht ganz zu Unrecht, durch die „einseitige und unkommentierte Verwendung des Begriffs ‚Psychosekte‘“ und den Hinweis auf „angebliche rechtextreme Tendenzen“ nicht nur das öffentliche Bild der Bewegung diskreditiert, sondern auch deren Verfolgung durch die Kommunistische Partei Chinas (KPC) relativiert. Diene schon der Begriff „Sekte“ dem chinesischen Regime „als verbaler Schlagstock“ zur Legitimierung der widerrechtlichen Verfolgung, rufe erst recht der Begriff „Psychosekte“ „die Assoziation mit psychischen Störungen und destruktiven Gruppen“ hervor und sei daher „irreführend und diskriminierend“. Tatsächlich hatte der damalige Staatspräsident Jiang Zemin Falun Gong unmittelbar nach dem Verbot 1999 im Ausland als „evil cult“ („bösartige Sekte“) bezeichnet, womit er sich ganz bewusst auf die westlichen Debatten über sektiererische Kulte und die Anti-Kult-Bewegung bezog. Man muss Falun Dafa zustimmen: Indem Böhmermann im Rahmen seiner Berichterstattung über das Urteil des Landgerichts Leipzig den Begriff „Psycho-Sekte“ fallen lässt, ohne ihn weiter zu erläutern, bestärkt er (vermutlich unbewusst) die Lesart der KPC, die darunter gerne alles subsumiert, was der eigenen Parteilinie widerspricht.
Shen Yun – Kosmischer Rhythmus und verschwiegene Heilslehre
Ist Falun Gong damit, wie es der Verein Falun Dafa in seiner Stellungnahme beschreibt, nichts weiter als eine „tiefgründige Kultivierungspraxis, die ihre Wurzeln fest in der jahrtausendealten traditionellen chinesischen Kultur verankert hat“11? Die 2006 gegründete Tanzshow Shen Yun, die in einigen der Stücke auch die Verfolgung von Falun Gong thematisiert, vermittelt dessen Botschaft in höchst ansprechender, Tanz, Musik und Gesang kongenial verbindender Weise, wie Besucher erzählen. Doch beinhaltet die Botschaft selbst sehr viel mehr als die Problematisierung menschenrechtlicher Fragen.
„Shen“ steht für das Göttliche, den Himmel, den Kosmos bzw. das kosmische Prinzip selbst, „Yun“ für Rhythmus oder, wie in Hongzhis Hauptwerk „Zhuan Falun“ (1995) beschrieben, für das „Drehen“ (Zhuan) des Dharma-Rades Falun, das als feinstoffliche Energie vorgestellt ist. Shen Yun ließe sich somit auch mit „kosmischer Rhythmus“ oder „Rhythmus des Kosmos“ übersetzen, wobei die Angleichung an diesen Rhythmus allein über die von Honghzi begründete Qigong-Praxis erfolgt. Das Tanztheater ist damit weder Folklore noch die Propaganda einer gefährlichen „Psychosekte“: Es wirbt – zweifellos beeindruckend – für die Ideale und die spirituelle Disziplin einer weltanschaulichen Kultivierungspraxis.
Es stößt dabei allerdings auf, dass der spirituelle Aspekt der Show in der aufwändigen Werbung auf Plakatsäulen oder in digitalen Formaten keinerlei Rolle spielt. Der Bezug auf die Ideale von Falun Gong wird nirgendwo offen deklariert. Klarheit besteht nur hinsichtlich der Verfolgung von Falun Gong in China, nicht aber hinsichtlich der Kultivierungs- und Heilslehre und noch weniger hinsichtlich der Finanzierung der Bewegung am Sitz in New York. Wer aber eine Eintrittskarte zu Shen Yun erwirbt, sollte wissen, dass er oder sie mit diesem Tanztheater nicht nur unterhalten, sondern auch belehrt werden soll – und dass er oder sie damit eine metaphysisch und spirituell aufgeladene Bewegungspraxis finanziell unterstützt.
Rüdiger Braun, 09.04.2025
Anmerkungen
- Jan Böhmermann, „Tanz der Sekte“, ZDF Magazin Royale vom 14.02.2025, https://www.zdf.de/video/shows/zdf-magazin-royale-102/zdf-magazin-royale-vom-14-februar-2025-100.
- So der damalige Vereinsvorsitzende Manyan Ng gegenüber FOCUS: „Falun Gong. Offizielle Sekte“, in: FOCUS Magazin/Nr. 19 (2005), 12.09.2017, https://www.focus.de/magazin/archiv/offizielle-sekte-falun-gong_id_2031154.html.
- Dazu zählen neben der Zeitung Epoch Times der Fernsehsender New Tang Dynasty Television, mehrere Youtube-Kanäle, Menschenrechtsorganisationen, Kulturvereine, Mode- und Schmuckmarken, zudem auch ein eigenes soziales Netzwerk namens Gan Jing World; vgl. Katrin Büchenbacher, „Shen Yun in Basel und Lausanne 2025“, NZZ 8.03.2025, https://www.nzz.ch/schweiz/shen-yun-in-basel-und-lausanne-2025-das-sind-die-wahren-hintergruende-der-show-ld.1871116.
- Nach einer Auswertung der „New York Times“ sind es seit 2009 über 17.000 Artikel.
- Shen Yun. Eine verlorene Tradition wiederbelebt, in: „Über uns: Künste & Spiritualität“, https://de.shenyun.org/spirituality.
- Vgl. dazu Friedmann Eißler, „Falun Gong/Falun Dafa“, Lexikon für Religion und Weltanschauung, https://www.ezw-berlin.de/publikationen/lexikon/falun-gong-/-falun-dafa/falun-gong/; ein weiteres Stichwort zu Falun Dafa/Shen Yun erscheint voraussichtlich in der nächsten Ausgabe der ZRW.
- „Umstrittene Bewegung: Ausbeutungsvorwürfe gegen Falun Gong“, SRF, 7.01.2025, https://www.srf.ch/news/international/umstrittene-bewegung-ausbeutungs-vorwuerfe-gegen-falun-gong-und-shen-yun.
- CNN, Associated Press, „Lawsuit alleges that young dancers for Shen Yun Performing Arts have faced abuse”, cnn.com, 27. November 2024, (Abruf: 31.03.2025), https://edition.cnn.com/2024/11/27/us/lawsuit-alleges-that-young-dancers-for-shen-yun-performing-arts-have-faced-abuse/index.html. Des Weiteren ist von einer Klage wegen Zwangsarbeit und Menschenschmuggel die Rede, vgl. Büchenbacher, „Das chinesische Tanztheater Shen Yun“ (siehe Anm. 3).
- „ZDF Magazin Royale: Jan Böhmermann gegen Shen Yun“, WEB.DE, 17.02.2025, https://web.de/magazine/unterhaltung/tv-shows/zdf-magazin-royale-jan-boehmermann-shen-yun-40669822.
- Vgl. „Stellungnahme zur Darstellung von Falun Gong im ‚ZDF Magazin Royale‘“ in: FalunInfo, 27.02.2025, https://de.faluninfo.eu/2025/02/27/stellungnahme-zur-darstellung-von-falun-gong-im-zdf-magazin-royale.
- „Stellungnahme zur Darstellung von Falun Gong im ‚ZDF Magazin Royale‘“ (siehe Anm. 10).
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